Nikolas Kreuz, geschäftsführender Gesellschafter des Hamburger Finanzdienstleisters INVIOS, beobachtet sowohl bei privaten als auch bei professionellen Anlegern eine große Bandbreite an Verhaltensanomalien. „Märkte werden in der Hauptsache nicht durch abstrakte Algorithmen und künstliche Intelligenz beeinflusst, sondern durch menschliche Entscheidungen. Und diese basieren zu 80 % auf Emotionen, an den Börsen herrscht also eine stetige Irrationalität”, sagt der Experte für Vermögensverwaltung. Wie stark dies auch für Investmentprofis gelte, habe der Fall Wirecard gezeigt. Mit der durch frühere Performance-Erfolge konditionierten Gier habe ein Grundtrieb dafür gesorgt, dass Portfoliomanager vor Bekanntwerden des Bilanzskandals Warnsignale ignoriert und auch später zugekauft hätten, obwohl eigentlich gesetzte Stop-Loss-Grenzen längst gerissen worden seien. „Hinzu kommt der sogenannte Dispositionseffekt: Anleger realisieren Gewinne schnell, trennen sich aber lange nicht von verlustreichen Investitionen, weil sie auf eine Rückkehr in die Gewinnzone hoffen”, führt Kreuz aus. Dies führe dazu, dass Marktteilnehmer hohe Renditen verpassten und auf der anderen Seite, wie im Fall Wirecard, häufig unnötig hohe Verluste verkraften müssten.
Aus Verhaltenssicht besonders problematisch sei es, wenn Investoren negative Erfahrungen früh in ihrer Laufbahn machten – denn daraus könnten langfristige Prägungen entstehen. „Das zeigt sich an der Aktienaversion eines großen Teils der deutschen Anleger, die zu Zeiten der Dotcom-Blase erstmals am Markt aktiv waren und sich die Finger verbrannt haben”, sagt Kreuz. Diese könnten sich auch zwei Jahrzehnte später nicht um ihre Altersvorsorge kümmern, da allein der Gedanke an Wertpapierhandel sie verängstige.
Mit Erfahrung ließen sich Vorprägungen in einem gewissen Maß kontrollieren. „Einerseits ist es wichtig, seine Strategien ständig zu reflektieren und seine Investitionen laufend im Blick zu behalten – allerdings müssen Marktteilnehmer sich aber auch davor hüten, hyperaktiv zu werden”, führt der Neurofinance-Stratege aus. Die Anlageweisheit „Hin und her macht Taschen leer” treffe dabei statistisch zu – bei Privatinvestoren betrage die Performance-Minderung durch übereifrige Handelstätigkeit im Schnitt 3,3 % pro Jahr.
Um effizienter zu handeln, stünde eine Menge an Analysemöglichkeiten zur Verfügung, die Marktteilnehmer aufgrund ihrer Verhaltensanomalien häufig nicht nutzten, zum Beispiel Charttechnik oder die Orientierung an Sentimentindikatoren und Volatilitätsindizes. Zudem könnten auch Kurs-Buchwert-Verhältnisse Erkenntnisse liefern, wie sich auch beim Corona-Crash im vergangenen März gezeigt habe. „Der Buchwert des Dax lag zu diesem Zeitpunkt bei 8.200 Punkten, und in etwa bei Erreichen dieses Niveaus hat der Kursverfall auch aufgehört”, sagt Kreuz.
Korrektur zum Durchschnitt
Genaue systematische Kursprognosen seien am Kapitalmarkt zwar nicht möglich, allerdings bestehe ein Mean-Reversion-Effekt. Heißt: Märkte neigen zu Übertreibungen, die Kurse korrigieren im Verlauf der Zeit aber zurück zum langfristigen Durchschnitt. „Dies lässt sich in traditionellen Assetklassen historisch gut nachvollziehen, ist bei jungen, im Hype befindlichen Werten wie Kryptowährungen aber weniger hilfreich”, räumt Kreuz ein. Die Kurse der Cyberdevisen seien hochvolatil, ihr innerer Wert kaum zu beziffern. „Schließlich sind Kryptowährungen im Gegensatz zum gerne als Vergleichswert herangezogenen Gold nicht greifbar, das menschliche Gehirn kann Bitcoin daher nicht erfassen”, so der Manager. Die Kryptowährung werde durch einen energieaufwendigen, aber völlig abstrakten digitalen Prozess generiert.
Insgesamt sei der Markt weiter hochgradig spekulativ und irrational geprägt. „Ein innerer Contango, also die Erwartung einer zukünftigen Wertsteigerung, die intakte Vermögenswerte kennzeichnet, ist bei Bitcoin&Co. noch nicht vorhanden”, sagt Kreuz. Zudem regten die Arbitragemöglichkeiten zwischen verschiedenen Kryptobörsen zum Hochfrequenzhandel an – was wiederum schnell die Taschen leer mache.
Zuletzt sei der Bitcoin-Kurs aufgrund der Aktivitäten einzelner Großinvestoren und der Ankündigung des Zahlungsdienstleisters Paypal, seinen Kunden den Kauf und Verkauf von Kryptowährungen zu ermöglichen, explodiert und habe viel Aufmerksamkeit erfahren. „Dass diese Effekte anhalten, ist in Anbetracht der extremen Kursausschläge in der Vergangenheit aber nicht garantiert”, sagt der Stratege.
Das Argument von Krypto-Bullen, durch die Beschränkung von Bitcoin auf 21 Millionen Einheiten sei Werthaltigkeit garantiert, beruhe auf Selbsttäuschung über das Verhalten eines Großteils der Marktteilnehmer. „Der letzte Bitcoin wird 2140 geschürft – doch nur die wenigsten Anleger dürften ein 120 Jahre in der Zukunft liegendes Datum im Blick haben. Für die meisten Menschen spielen bei ihren Investmententscheidungen deutlich kurzfristigere Renditehoffnungen die entscheidende Rolle”, führt der INVIOS-Gründer aus. Bis der Wert der Cyberdevisen stärker erkennbar sei, müssten Bitcoin-Investoren noch viele schmerzhafte Rückschläge verkraften.